Rezensionsessay: Fragen der Perspektive. Bibliotheksgeschichte als Zeitgeschichte

Cover
Title
Wissensspeicher in der Bundesrepublik. Die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main 1945–1990


Author(s)
Rausch, Helke
Published
Göttingen 2023: Wallstein Verlag
Extent
430 S., 8 Abb.
Price
€ 40,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Caroline Jessen, Leibniz-Institut für Jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow, Leipzig

Nach zwei grundlegenden Studien zur Deutschen Bücherei in Leipzig vor und nach 19451 liegt mit diesem Band zum Wissensspeicher in der Bundesrepublik ein drittes Teilstück der Geschichte der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) vor.2 Die DNB hat diese Forschungsarbeiten selbst in Auftrag gegeben und so die Perspektive ausgewiesener (Wissenschafts-)Historiker:innen in eine Geschichtsschreibung eingebunden, die lange von Chroniken, Festschriften und Selbstdarstellungen der Institutionen geprägt war. Die Öffnung des Hausarchivs für die Forschung ist als Schritt hin zu einer stärkeren Transparenz der Bibliotheken und Literaturarchive in öffentlicher Trägerschaft, die über die Akten ihrer Arbeit, deren Umfang und Zugänglichkeit bislang noch nicht systematisch informieren, ein wichtiges positives Signal.3

Sammlungseinrichtungen haben sich seit Ende der 1980er-Jahre – beispielsweise durch die Schwerpunktsetzungen des 1979 gegründeten Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheksgeschichte – zwar differenziert und selbstkritisch mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt und dabei teils engagiert, teils zögerlich auch die Rolle von Bibliotheken und Bibliothekspersonal im Nationalsozialismus diskutiert. Die Suche nach NS-Raubgut infolge der Umsetzung der „Washingtoner Prinzipien“4 verstärkte diese thematische Fokussierung, denn die Provenienzrecherchen erforderten ein vertieftes Verständnis der Strukturen und Akteure des nationalsozialistischen Raubs und der nationalsozialistischen Buchpolitik sowie der Positionierungen und Handlungsspielräume der beteiligten Institutionen. Die in diesem Kontext entstandenen Arbeiten füllten eine Leerstelle in den seit der Nachkriegszeit tradierten Selbstporträts der Bibliotheken.5

Mittlerweile liegt eine Vielzahl von bibliotheksgeschichtlichen Studien vor, die sich auf die Zeit des Nationalsozialismus konzentrieren. Vor diesem Hintergrund bemerkte Christian Rau 2018 in seiner Monographie zur Deutschen Bücherei allerdings zuspitzend, dass die jüngere Zeitgeschichte von Bibliotheken nach 1945 bislang immer noch „fast ausnahmslos älteren Bibliothekaren überlassen [sei], von denen sich viele schon im Ruhestand befinden“. Dabei zeige sich „eine methodische Leerstelle“, denn „zwischen Bibliotheks- und Zeithistorikern hat bislang kaum Austausch stattgefunden“.6 Dieser Einschätzung lassen sich wissenschaftsgeschichtliche, biographische und kulturwissenschaftliche Studien zu einzelnen Akteuren oder exponierten Sammelgebieten wie Exil und Expressionismus oder auch zu den Debatten um die Restitution geraubter Sammlungen in der Nachkriegszeit entgegenhalten, aber sie treffen den Kern der Kritik nicht: Bisher fehlen für die Zeit nach 1945 in der Tat umfassende, methodisch stringente Arbeiten zu so wichtigen Institutionen wie der Bayerischen Staatsbibliothek München, der Staatsbibliothek zu Berlin, der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen oder der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Es fehlen mithin noch Arbeiten, die Bibliotheken im Zusammenhang der gesellschaftlichen, wissenschafts- und kulturpolitischen, aber auch informationswissenschaftlichen Entwicklungen der Zeit analysieren.7 Sören Flachowsky und Christian Rau haben 2018 in ihren detaillierten Studien zur Deutschen Bücherei in Leipzig gezeigt, wie erhellend entsprechende Ansätze der „neuen“ Institutionengeschichte sein können. Auch Helke Rauschs ebenfalls bei Wallstein erschienene Studie setzt hier an – deutlich knapper gehalten, eigenständig und produktiv.

Der Untersuchungsgegenstand

Eine „Deutsche Bibliothek“ in der amerikanischen Besatzungszone: Der Name des 1947 gegründeten Hauses, dessen Geschichte die Autorin darstellt, deutet die Ambivalenz an, mit der in Frankfurt am Main nach Kriegsende und mit erheblicher Unterstützung der Militäradministration eine Institution aufgebaut wurde, die ihren Kompromisscharakter und ihren Orientierungspunkt nicht verbarg. Das Begründungsargument der Deutschen Bibliothek wies zurück nach Leipzig, wo der Börsenverein der Deutschen Buchhändler 1912 mit der Deutschen Bücherei eine zentrale Archivbibliothek etabliert hatte, die alles sammeln und dokumentieren sollte, was in deutscher Sprache erschien. Am Beginn der Geschichte der Frankfurter Einrichtung standen aufgrund der restriktiven Bestimmungen für den Warenverkehr zwischen den Besatzungszonen sowie erwarteter Zensurmaßnahmen der sowjetischen Militäradministration in Leipzig buchhändlerische, wissenschaftliche und bibliothekarische Sorgen um die Vollständigkeit der Nationalbibliographie, die in Leipzig seit 1931 geführt worden war, aber auch politische Interessen der amerikanischen Militäradministration. Eine zentrale Erfassung erleichterte die Kontrolle des Gedruckten. In der Bibliotheksidee drückten sich somit politische Überzeugungen und reale Ungewissheiten aus. Die Bedeutung möglichst umfassender, dauerhafter, standardisierter und zentral verfügbarer Nachweise in Form der gedruckten Nationalbibliographie und die zentrale Sammlung der entsprechenden Schriften ist heute angesichts der ins Digitale verlegten, weit fortgeschrittenen Vernetzung der Bestandskataloge und bibliographischen Nachweissysteme nicht mehr so direkt sichtbar, doch war und ist ihre Funktion elementar.8

Viele Verleger scheuten sich, einer Teilung Deutschlands zuzuarbeiten, aber Pragmatismus sprach für ein Parallelunternehmen, die „Bibliographie der Deutschen Bibliothek“, in Ergänzung der Leipziger Nationalbibliographie, nachdem sich Ideen einer Arbeitsteilung zerschlagen hatten. Die politischen Entwicklungen der folgenden Jahre und die Rhetorik des Kalten Kriegs in der Wissenschafts- und Kulturpolitik, zudem die ausdauernden Bemühungen des Gründungsdirektors Hanns Wilhelm Eppelsheimer (1890–1972), sein Haus in diesem Kontext als Teil des demokratischen Grundgerüsts der Bundesrepublik auszuweisen, wurden dann wesentlich für die Verfestigung von Strukturen, die sich auf bibliographischer Ebene in weiten Teilen doppelten und erst im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands aufgehoben wurden. Ein unverkennbares Profil gewann die Deutsche Bibliothek derweil durch ihre Sammlungen, das 1948/49 begründete Deutsche Exilarchiv und das 1970 in West-Berlin etablierte Deutsche Musikarchiv. Anders als die bereits weit vor 1945 gegründeten Staats- und Universitätsbibliotheken verfügte der Frankfurter Standort nicht über historisch gewachsene Sammlungen alter Drucke und Handschriften. Aber gerade durch die Sammlung der Exilliteratur, thematisch zugehöriger Archivalien und Objekte positionierte sich das Haus – der Forschung ebenso wie der Forschungsförderung deutlich vorgreifend – politisch und wissenschaftlich klug. Unzählige Arbeiten zur Geschichte von Vertreibung, Flucht und Migration als Folgen der NS-Herrschaft basieren auf den Beständen dieses Archivs.

Helke Rausch rückt in ihrer Arbeit die politische Dimension der Gründungsgeschichte der Deutschen Bibliothek ins Zentrum und arbeitet mit besonderem Interesse für die frühen Nachkriegsjahre und die Zeit des Kalten Kriegs Handlungsmotive der beteiligten Akteure heraus. Sie stellt dem eine Kurzdarstellung der Rolle von Bibliotheken im NS-Kulturgutraub voran, erläutert nationalsozialistische Sammlungspolitiken 1933–1945, die Entlassung jüdischer Bibliothekar:innen einerseits, personelle Kontinuitäten in Politik, Verlags- und Bibliothekswesen andererseits und zeigt auf diese Weise den Kontext für die Nachkriegsgründung der Deutschen Bibliothek im ehemaligen Rothschild-Palais. „In der Frankfurter Bibliothekslandschaft liefen bis 1945 viele nationalsozialistische Fäden zusammen“, so Rausch in einer etwas saloppen Metapher, die auf die Rolle der Stadt bei der Zentrierung geraubter jüdischer Bibliotheken nach der Einrichtung des „Instituts zur Erforschung der Judenfrage“ (1939–1945) zielt. Auch das Rothschild-Palais am Untermainkai stand für die zynische Umwidmung jüdischer Material- und Wissensbestände im Nationalsozialismus. Nach dem Krieg diente das Gebäude kurzzeitig als Sammelstelle für die geraubten Bücher aus jüdischem Besitz, die auf Veranlassung der Alliierten restituiert werden sollten.9 Hier fand Ende 1946 die Deutsche Bibliothek im sogenannten Tabakzimmer als eine Art Untermieter der Stadt- und Universitätsbibliothek ihren ersten Ort und in Eppelsheimer einen Gründungsdirektor, der sich durch die Leitung beider Einrichtungen Spielräume und Autorität verschaffte, um das unsichere Konstrukt der Deutschen Bibliothek in die bestehende Bibliothekslandschaft einzubringen.

Rauschs Studie führt – räumlich gesehen – vom Tabakzimmer am Untermainkai zu einem 1959 für die Deutsche Bibliothek errichteten, später erweiterten Gebäude im Stil der Nachkriegsmoderne an der Zeppelinallee, in dem die Bibliothek bis 1997 untergebracht blieb. In diesem Umzug Ende der 1950er-Jahre drückt sich ein Konsolidierungsprozess aus, den die Autorin auf mehreren Ebenen befragt. Rückgebunden an Entwicklungen in Leipzig sowie an politische und wissenschaftspolitische Entscheidungen beschreibt Rausch die zögerliche Integration der Bibliothek in das Gefüge der öffentlichen Infrastruktureinrichtungen: von der Trägerschaft durch den Buchhandel (Landesverbände der Buchhändler und Verleger, Vorläufereinrichtungen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels) und die Stadt Frankfurt über die Umwandlung in eine Stiftung des Landes Hessen und der Stadt Frankfurt hin zur Gründung einer „rechtsfähigen bundesunmittelbaren Anstalt des öffentlichen Rechts“ (1969) und schließlich – in einer Aufhebung der Parallelstrukturen – 1990 zur Fusion mit der Deutschen Bücherei Leipzig. Resultat dieser Zentrierung war auch eine kleine Namensänderung, die auffiel: „Die Deutsche Bibliothek“. (Sie wurde in jedem Satz, in dem diese Einrichtung nicht Subjekt oder Akkusativobjekt war, zur Herausforderung.) Mit einem knappen Ausblick auf die Aufgaben, welche die Zusammenführung heterogen gewachsener Strukturen mit sich brachte, aber auch im konzisen Verweis auf die Ambivalenz der personalpolitischen Entscheidungen, die mit ihr einhergingen (S. 336f.), endet Rauschs Darstellung. Erst 2006 führte das „Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek“ schließlich denjenigen Namen ein, unter dem die beiden Häuser in Frankfurt am Main und Leipzig heute arbeiten und der an beiden Standorten durch die zentrale Funktion der Nationalbibliographie bereits früh mitklang.

Ansatz und Methode

Rausch betont, keine teleologisch auf die Deutsche Nationalbibliothek ausgerichtete Geschichte schreiben zu wollen, sondern „die historische Eigenzeit der Deutschen Bibliothek in der Bundesrepublik“ (S. 16) ernstzunehmen. Sie orientiert sich an Institutionen- und Behördengeschichte, Wissens- und Wissenschaftsgeschichte und entwickelt daraus ihren Ansatz, „Bibliotheks- als politische Zeitgeschichte“ (S. 19) zu schreiben. Der Band gliedert sich in zehn Hauptkapitel, die einer lockeren chronologischen Ordnung folgen, aber auch thematische Akzente setzen, beispielsweise durch die Abschnitte zum Exilarchiv 1933–1945. Wichtige Etappen sind die unsicheren Anfänge und Aushandlungsprozesse in den Jahren um die Gründung der Deutschen Bibliothek 1947, die Jahre bis 1959 als Zeit der Etablierung und eine weitere Konsolidierungsphase bis 1969, in der die Sammlungen zunehmend Gesicht und Gewicht gewannen, schließlich die Jahre bis 1990, die im Zeichen wissenschaftspolitischer Planungs- und Effizienzemphase sowie institutioneller Vernetzung standen, unterstützt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Als „Sichtachsen“ beziehungsweise Ordnungsfiguren nennt Rausch „Akteure, Orte/Räume, Zeiten“ (S. 18). Diese wechselnden Perspektiven spiegeln sich in der Struktur der Arbeit und kommen der Beweglichkeit der Darstellung zugute. Es gibt Nahaufnahmen einzelner Akteure, informative Skizzen wesentlicher institutioneller Entwicklungen – und Passagen, in denen die Deutsche Bibliothek zugunsten einer stark gerafften Darstellung allgemeiner politischer und gesellschaftlicher Prozesse der betrachteten Dekaden in den Hintergrund tritt.

Eine Stärke der Arbeit liegt darin, dass die unterschiedlichen, sich im Laufe der Zeit verändernden Räume, in denen sich die Deutsche Bibliothek verorten musste, und die wechselnden Ansprüche der Politik – „mal gesamtdeutsch verträglich, mal provokanter ausgerichtet gegen ostdeutsche Anwartschaften auf den Status einer Nationalbibliothek“ (S. 143) – stets präsent gehalten werden. Die Deutsche Bibliothek war ein late comer und Störfaktor in einer bereits stark ausdifferenzierten und vom Krieg durcheinandergebrachten Bibliothekslandschaft; sie stand in latenter Konkurrenz zu den Staatsbibliotheken sowie zur Westdeutschen Bibliothek in Marburg als „Westdépendance der nach 1945 geteilten ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek“ (S. 144). Zudem war sie eine lokalpolitisch relevante Einrichtung, bewegte sich seit ihrer Gründung aus politischen und fachlichen Gründen aber stets auch in deutsch-deutschen und transatlantischen Zusammenhängen; und nicht zuletzt musste sie die Notwendigkeit ihrer Finanzierung in wechselnden Referenzrahmen deutlich machen: gegenüber dem Frankfurter Börsenverein, der Stadt Frankfurt, dem Land Hessen und dem Bund. Gegenüber der Deutschen Forschungsgemeinschaft scheint dies bis in die 1960er-Jahre nur bedingt gelungen zu sein, obwohl Eppelsheimer dem Bibliotheksausschuss der DFG angehörte und teilweise vorstand. Gern hätte man von Rausch noch mehr über diese Gemengelage erfahren, gingen von der DFG doch spätestens seit Beginn der 1950er-Jahre wichtige Impulse für die Arbeit der Bibliotheken und ihre Forschungsorientierung aus.

Bibliothekar:innen aus Perspektive der Zeitgeschichte

Die Studie verweist auf die Bedeutung von „Schlüsselakteuren“ wie Hanns Wilhelm Eppelsheimer, vertraut sonst stark auf vorhandene Forschung zur Bibliotheksgeschichte und argumentiert, es sei weder möglich noch beabsichtigt, „die Geschichte […] flächendeckend von dieser Seite her [zu] sezieren“ (S. 19). Das schiefe Bild der flächendeckenden Sektion verdeutlicht den Anspruch, einen Darstellungsmodus zu erproben, welcher der Breite und Komplexität des Gegenstands gerecht wird und die systemischen Aspekte nicht in einer Fülle von Details verliert. Betonte Christian Rau 2018 in seinem Aufsatz „Bibliotheksgeschichte als Zeitgeschichte“, das „bislang größte Forschungsdesiderat in der Geschichte der Deutschen Bibliothek“ bilde „ihr Personal“10, markiert Helke Rauschs Band Wissensspeicher in der Bundesrepublik demgegenüber schon im Personenverzeichnis, dass seine Autorin ihr Ziel anders gesteckt hat. Konsequenterweise kommen die beteiligten Akteure und die wenigen Akteurinnen kaum zu Wort. Dies geht zu Lasten der Anschaulichkeit und der Möglichkeiten, die deutlichen, sprachlich oft unangemessenen und misslichen Wertungen von Ereignissen und Handlungsmotiven (unter anderem „Entnazifizierungsmaschine“, S. 72; „Marschgepäck der Siegermacht“, S. 109; „Entnazifizierungsradar“, S. 350) durch O-Töne zu differenzieren oder zu konkretisieren. Als Arbeitszusammenhang – mit eigenen Hierarchien, Binnendifferenzen, Tätigkeiten, Mitbestimmungsmöglichkeiten, Konflikten – wird die Institution nicht deutlich sichtbar.

Wenn Rausch in ihrer Einleitung betont, das „Sammeln jenseits seiner technischen Herausforderungen und Erfordernisse thematisierten die Bibliothekare […] selten“ (S. 26), bleibt offen, ob sich dies auf die Leitungsebene, Angehörige des wissenschaftlichen Dienstes und des gehobenen Bibliotheksdienstes oder einfache Bibliotheksangestellte bezieht. Es mag eine grundsätzliche Wertung sein, denn „[h]ier lebte der angestrengte Gestus des Unpolitischen weiter, den sich die Frankfurter nicht anders als weite Teile der bibliothekarischen Profession angeeignet hatten“ (S. 26f.). Mit einiger Wahrscheinlichkeit trifft diese Aussage einen wichtigen Aspekt der Zeit und einer Profession, die in Standards und Regeln die Möglichkeit „objektiver“ Ordnungen sah. Doch wird die Wertung nicht systematisch belegt oder mit Blick auf Entlastungsstrategien der Zeit nach 1945 genau analysiert – sondern teilweise an anderer Stelle eher wieder relativiert durch die Ausführungen zur Geschichte der Exil-Sammlung, die in den ersten Jahren mit erheblichem persönlichem Engagement eingerichtet wurde und einen aktiven Eintritt in das Gespräch mit emigrierten Schriftsteller:innen und Wissenschaftler:innen darstellte, dessen Bedeutung nicht überschätzt werden kann.11 So bleibt das Argument undeutlich, weil es eine differenziertere Beschäftigung mit dem Innenleben der Bibliothek und mentalitätsgeschichtlichen Fragen erfordert hätte, soweit hierzu Quellen vorliegen und zugänglich sind. Immerhin zeigt Rausch aber eine Grundspannung auf, in der die Deutsche Bibliothek stand.

Die Studie demonstriert Distanz zum bibliothekswissenschaftlichen Diskurs. In der Kommentierung früher Ansätze transatlantischer Beziehungen gelingt es der Verfasserin auf diese Weise, unterschiedliche Motive solcher Kontakte zu skizzieren und die Rhetorik herauszuarbeiten, mit der insbesondere der Gründungsdirektor der Deutschen Bibliothek seine Offenheit für Neuerungen im Sinne einer zunehmenden Demokratisierung und Zugänglichkeit des Bücherwissens mit dem Festhalten am Vertrauten zu verbinden suchte, um konservative Kolleg:innen auf seinem Kurs nicht zu verlieren. Doch endet dieses erhellende Unterkapitel überraschend in der Polemik, es erschließe sich ohne eine „Geschichte der internationalen Bibliotheksbeziehungen nach 1945“ vorerst nicht, „was die Zunft mit solchen Blicken über den westdeutschen Tellerrand programmatisch oder praktisch weiter anfing“ (S. 102). Lässt sich die heutige Vernetzung denken ohne Beobachtungsformen und komplizierte, von Eigeninteressen und Kompromissen bestimmte Austauschprozesse über gemeinsame Regeln und Standards der Erschließung, Normdaten, Aufstellungssystematiken und so weiter? Vor dem Hintergrund der elementaren Bedeutung differenzierter Forschungsinfrastrukturen, auf die Rausch in ihren Ausführungen zu Entwicklungen seit den 1960er-Jahren explizit eingeht, wirken einige Sätze im Buch so, als sichere die Autorin durch sie vor allem ihre Distanz zu buch- und bibliothekswissenschaftlichen Fragen ab: Die „Verständigungssprache war […] spröde und technizistisch“ (S. 321); die „Katalogisierungs-Internationale sprach im hermetischen Expertenmodus“ (S. 322). Es wäre erhellender gewesen, das Urteil an diesen Stellen zu suspendieren und stattdessen den Spielräumen nachzuforschen, die sich aus international ähnlich gelagerten Problemen der Informationsvermittlung und -repräsentation sowie aus einer Fachsprache ergaben. Welche politische Relevanz kam solch scheinbar nach außen abgeschotteten Fachdiskursen langfristig zu, und wie haben sie zur Vernetzung von Kultur und Wissenschaft beigetragen oder diese mitunter auch blockiert?

Zur Entstehung des Exilarchivs 1933–1945

Unmittelbar evident ist die politische Bedeutung der bibliothekarischen Tätigkeit im Falle eines der frühesten Sondersammelgebiete der Deutschen Bibliothek, dem Exilarchiv 1933–1945, das 1948/49 als Bibliothek der Emigrationsliteratur begründet wurde. Wie Rausch in einem eigenen Kapitel herausarbeitet, wurde in Frankfurt in Zusammenarbeit mit dem Schutzverband deutscher Schriftsteller in der Schweiz früh gesammelt, was in den meisten Bibliotheken der Bundesrepublik schlichtweg nicht vorhanden war. Es handelte sich hier zugleich um „eine demonstrative Sammlungsgeste“ (S. 184) und eine Erwiderung der Leipziger Bemühungen um die Literatur des Exils, wie die Autorin betont (S. 180–183).12 Rausch verdeutlicht die Fähigkeit des Gründungsdirektors, die Funktion der Sammlung unterschiedlich zu vermitteln und so auch diejenigen Kollegen und politischen Akteure für sich zu gewinnen, die Emigranten, politischem Exil und Exilliteratur in diesen Jahren nicht ohne Ressentiment begegneten. „Eppelsheimer warb für das Projekt in sprödem, bibliothekarischem Ton. Man komme in Deutschland praktisch nicht an Emigrationsliteratur heran und das verhindere einen korrekten Bezug auf die Texte.“ (S. 184)

Die Autorin veranschaulicht, wie vorsichtig sich der Bibliotheksleiter bewegte, verweist auf Eppelsheimers „Konzessionen an die Sagbarkeitsregeln des NS“ in den Jahren 1933–1945 (S. 185), problematisiert seine 1947 erschienene Auswahl-Bibliographie Deutsche Bücher 1939–1945 und wertet die politische Zurückhaltung in den Konflikten des Literaturbetriebs der Nachkriegszeit auch vor diesem Hintergrund. Sie geht aber nicht näher auf die Biographie Eppelsheimers und seinen teilweise bis in die 1920er-Jahre zurückreichenden Freundeskreis um den Verleger Peter Suhrkamp, den Generalsekretär des deutschen PEN-Zentrums und Vizepräsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Kasimir Edschmid sowie den Intendanten des Zürcher Schauspielhauses Kurt Hirschfeld ein. Dabei ermöglichen, wie Christian Raus Arbeit in einem übertragbaren Fall überzeugend zeigt, gerade solche Kontinuitäten auf Ebene der informellen und persönlichen Netzwerke ein besseres Verständnis der politischen Positionen und der Vermittlerrolle Eppelsheimers im Zusammenhang mit der Etablierungsgeschichte der Deutschen Bibliothek.13 Als Leiter der Stadtbibliothek war er zudem ein wichtiger Kontakt für Hannah Arendt und Gershom Scholem in den Bemühungen um eine Restitution geraubten jüdischen Buchbesitzes.14 Interessant wäre aber vor allem gewesen, mehr über die Beziehungen in die Schweiz zu erfahren und über den Austausch mit politisch deutlich weiter links stehenden Autor:innen wie Jo Mihaly und Walter Fabian, die den Aufbau der Exilsammlung unterstützten. Dies hätte eine Arbeit mit dem persönlichen Nachlass Eppelsheimers und der an anderen Orten überlieferten Korrespondenz erfordert, die im Rahmen dieses Forschungsprojekts vielleicht nicht möglich war. Mit dem Verzicht blieb die Möglichkeit ungenutzt, das Wissen um die Spannungen, Kompromisse und Widersprüche dieser Jahre auf breitester Quellenbasis, also institutionellen und persönlichen Dokumenten, zu stützen und gegebenenfalls zu differenzieren.

Allerdings gelingt es Rausch auch ohne solche vertiefenden Fragen, die Geschichte des Exilarchivs in dessen doppelter Bedeutung für politisch-gesellschaftliche Diskurse und für die Profilbildung der Deutschen Bibliothek zusammenzufassen. Ihre Skizze führt von den aus ihrer Sicht eher zurückhaltend politisch kommunizierten Anfängen über Diskussionen um die Problematik einer gesonderten Erfassung (und einer damit unwillentlich verbundenen erneuten Ausgrenzung) der Exil-Literatur bis hin zur stärkeren öffentlichen Wirkungsabsicht unter der Leitung des von ihr deutlich gewürdigten Werner Berthold und der von ihm auf den Weg gebrachten Ausstellung „Exil-Literatur 1933–1945“ im Jahr 1965. Schließlich erläutert sie auch das Zusammenwirken der Förderprogramme der DFG für Exilforschung ab Ende der 1960er-Jahre und das Bundesgesetz über die Deutsche Bibliothek, die den Ausbau des Exilarchivs dauerhaft absicherten.

Fazit

Helke Rauschs Beobachtung, dass „die Frankfurter Bibliothek den angestrengten politischen Neutralismus der bibliothekarischen Zunft“ mit ihrer Sammlung zur Geschichte des Exils „aufkündig[te]“, aber noch nicht die eigene Rolle in den Jahren 1933–1945 aufarbeitete (S. 217), spitzt gewollt kritisch zu. Die Autorin veranschaulicht aber am Beispiel der Geschichte dieser Institution, wie lang der Weg im deutschen Bibliothekswesen zu jenen Entwicklungen war, die zur zögerlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle bei der systematischen Zerstörung jüdischer Kultur- und Wissensbestände in Deutschland sowie Ende der 1990er-Jahre zu Ansätzen einer systematischen Provenienzforschung führten. Rauschs Studie fügt sich in den Kontext kritischer Historisierung und zunehmender Transparenz ein; sie erweitert ihn durch den Blick auf die jüngere Zeitgeschichte. Die Arbeit profitiert sprachlich wie inhaltlich nicht von der Entscheidung zu stark pointierten Thesen und distanziert sich durchweg zu sehr von bibliothekswissenschaftlichen Fragen, bereichert aber das Wissen um die Geschichte der Deutschen Nationalbibliothek und um die Entwicklung von Informationsinfrastrukturen in der Bundesrepublik während der deutschen Teilung erheblich. In Verbindung mit der Studie Christian Raus und den von der DNB selbst publizierten Informationen zur Hausgeschichte bietet Helke Rauschs Buch zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten für die weitere wissenschaftsgeschichtliche und zeithistorische Forschung. Besonderes Interesse verdient in diesem Zusammenhang künftig gewiss die Geschichte der Bibliotheken im Zuge der deutschen Wiedervereinigung, das heißt der Transformationsprozess der ostdeutschen Bibliotheken nach 1990 in seiner ganzen Breite15, auf dessen gesellschafts- und wissenschaftspolitische Signifikanz Rauschs Studie hinweist.

Anmerkungen:
1 Sören Flachowsky, „Zeughaus für die Schwerter des Geistes“. Die Deutsche Bücherei in Leipzig 1912–1945, 2 Bde., Göttingen 2018; Christian Rau, „Nationalbibliothek“ im geteilten Land. Die Deutsche Bücherei 1945–1990, Göttingen 2018.
2 Der Titel „Wissensspeicher in der Bundesrepublik“ verweist durch die zeitliche Engführung der verbreiteten Bibliotheksmetapher des „Wissensspeichers“ auf das spezifische Sammlungsprofil, denn „Krieg und deutsche Teilung raubten“ der Deutschen Bibliothek „das Pathos nationaler Überzeitlichkeit ihrer Vorräte quer über alle Epochen und Räume […]. Stattdessen erarbeitete man sich in Frankfurt auch aus öffentlicher Sicht ‚eine einzigartige Informationsquelle‘ der zeitgenössischen Jetztzeit ab 1945.“ (Rausch, S. 12) Die Aufmerksamkeit galt der möglichst umfassenden Dokumentation des Gedruckten: „Man trug […] systematisch ganz heterogene Wissensarsenale unterschiedslos in ihrer ganzen Breite zusammen“ (S. 26).
3 Aktiv informiert etwa die Bibliothèque Nationale de France (BNF) über die Benutzungsmöglichkeiten des eigenen institutionellen Archivs. Vgl. BNF, Les archives institutionelles de la BNF, https://www.bnf.fr/fr/les-archives-institutionnelles-de-la-bnf (15.03.2024). In vielen Bibliotheken ist eine Recherche in administrativen Akten möglich; darüber wird – eventuell auch aufgrund des Erschließungszustands der betreffenden Dokumente – bislang jedoch kaum informiert.
4 Vgl. Deutsches Zentrum Kulturgutverluste Magdeburg, Historische Kontexte, NS-Raubgut und Übersicht, https://kulturgutverluste.de/kontexte/ns-raubgut#hilfestellung (15.03.2024).
5 Vgl. zum Beispiel Peter Vodosek / Manfred Komorowski (Hrsg.), Bibliotheken während des Nationalsozialismus. Teil 1, Wiesbaden 1989; dies. (Hrsg.), Bibliotheken während des Nationalsozialismus. Teil 2, Wiesbaden 1992; Sven Kuttner / Bernd Reifenberg (Hrsg.), Das bibliothekarische Gedächtnis. Aspekte der Erinnerungskultur an braune Zeiten im deutschen Bibliothekswesen, Marburg 2004; Stefan Alker / Christina Kästner / Markus Stumpf (Hrsg.), Bibliotheken in der NS-Zeit. Provenienzforschung und Bibliotheksgeschichte, Göttingen 2008; Michael Knoche / Wolfgang Schmitz (Hrsg.), Wissenschaftliche Bibliothekare im Nationalsozialismus. Handlungsspielräume, Kontinuitäten, Deutungsmuster, Wiesbaden 2011; Sven Kuttner / Peter Vodosek (Hrsg.), Volksbibliothekare im Nationalsozialismus. Handlungsspielräume, Kontinuitäten, Deutungsmuster, Wiesbaden 2017. Zunehmend richtet sich der Blick der Forschung mittlerweile auch auf den Entzug von Kulturgut in der SBZ und DDR. Vgl. Deutsches Zentrum Kulturgutverluste Magdeburg, SBZ/DDR. Grundlagen & Übersicht, https://kulturgutverluste.de/kontexte/sbz-ddr (15.03.2024).
6 Rau, „Nationalbibliothek“ im geteilten Land, S. 16.
7 Vgl. Bernhard Löffler, Moderne Institutionengeschichte in kulturhistorischer Erweiterung. Thesen und Beispiele aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Hans-Christof Kraus / Thomas Nicklas (Hrsg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, Berlin 2007, S. 155–180.
8 Vgl. Kurt Schneider, Die Deutsche Nationalbibliografie und ihre Formate. 1931 bis 2030, Frankfurt am Main 2022, https://d-nb.info/1252720637/34 (15.03.2024).
9 Heute beherbergt das Gebäude das Jüdische Museum Frankfurt. Vgl. Universitätsbibliothek J.C. Senckenberg Goethe-Universität Frankfurt am Main, 125 Jahre Rothschildʼsche Bibliothek, https://www.ub.uni-frankfurt.de/judaica/vjv_01.html (15.03.2024).
10 Christian Rau, Bibliotheksgeschichte als Zeitgeschichte, in: Dialog mit Bibliotheken 30,2 (2018), S. 16–26, hier S. 22, https://d-nb.info/1168258715/34 (15.03.2024).
11 Vgl. bes. Sylvia Asmus (Hrsg.), Exil. Erfahrung und Zeugnis / Exile. Experience and Testimony. Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek (Kat. zur Dauerausstellung), Göttingen 2019; Jan Eike Dunkhase, Provinz der Moderne. Marbachs Weg zum Deutschen Literaturarchiv, Stuttgart 2021.
12 Die Deutsche Bücherei hatte die Werke nach 1933 vertriebener, geflüchteter oder emigrierter Autor:innen gesammelt und gesondert erfasst – begründet im Sinne der NS-Schrifttumspolitik. Die Wissensordnungen, in denen diese Bücher im NS-Deutschland standen, sind mit den (in Leipzig und Frankfurt je eigenen) Motiven der Sammlung von Exilliteratur nach 1945 unvereinbar, doch bildeten diese Bücher einen Kern der Leipziger Exilsammlung. Vgl. Flachowsky, „Zeughaus für die Schwerter des Geistes“, S. 685–749.
13 Christian Rau hebt in Bezug auf Heinrich Uhlendahl (1924–1954 Leiter der Deutschen Bücherei) die Bedeutung bibliothekarischer Netzwerke nach 1945 hervor und beschreibt aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive die mit ihnen verbundenen „Praktiken der kollektiven Selbstvergewisserung und Selbsttäuschung“ im Hinblick auf die NS-Vergangenheit, aber auch eine insgesamt konservative Einstellung zu Neuerungen im Bibliothekswesen. Vgl. Rau, „Nationalbibliothek“ im geteilten Land, S. 210–212. Vor dieser Folie wäre es interessant zu erfahren, ob und wie sich die Biographie Eppelsheimers abhebt. Bernhard Fabian bemerkte schon 1983 mit Blick auf den Widerstand, den die Pläne Eppelsheimers zur „Schaffung einer zentralen Bibliothek in Westdeutschland“ 1948 erzeugten, es stelle sich die Frage, „ob die deutsche Bibliotheksgeschichte der letzten Jahrzehnte oder sogar des letzten Jahrhunderts nicht über weite Strecken als Mentalitätsgeschichte geschrieben werden muß“. Bernhard Fabian, Buch, Bibliothek und geisteswissenschaftliche Forschung. Zu Problemen der Literaturversorgung und der Literaturproduktion in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 1983, S. 57 und S. 59.
14 Vgl. Hannah Arendt – Gershom Scholem. Der Briefwechsel, hrsg. von Marie-Luise Knott. Unter Mitarbeit von David Heredia, Berlin 2010, bes. S. 304–312, S. 526; Elisabeth Gallas, „Das Leichenhaus der Bücher“. Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach dem Holocaust, Göttingen 2013, bes. S. 158f.
15 Vgl. zum Thema bes. die neueren Blog-Beiträge von Michael Knoche, Wieviel Personal haben die ostdeutschen wissenschaftlichen Bibliotheken nach der Wiedervereinigung verloren?, in: Aus der Forschungsbibliothek Krekelborn, 29.01.2024, https://doi.org/10.58079/vovl (15.03.2024; mit Verweis auf weiterführende Literatur); ders., Die Belegschaft wählt ihren Direktor ab – Gespräch mit Katrin Lehmann, Bibliothekarin an der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, in: Aus der Forschungsbibliothek Krekelborn, 15.01.2024, https://doi.org/10.58079/vlga (15.03.2024).

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